Gender Marketing ist das auf die unterschiedlichen Bedarfe und Bedürfnisse von weiblichen und männlichen Verbrauchern abgestimmte Marketing-Prinzip. Und noch weitaus mehr! Es ist ein ganzes System! Die Gender Marketing Definition ist komplexer als auf den ersten Blick ersichtlich.
Der Beginn von Gender Marketing
Als Diana Jaffé 2001 erstmals begann, sich eingehend mit Zielgruppen zu befassen, entdeckte sie die gravierenden Unterschiede zwischen Kundinnen und Kunden, Nutzerinnen und Nutzern. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede zeigten sich überall: in den Fähigkeiten, Bedürfnissen, Wünschen, Motiven, Entscheidungen, Lebensgestaltungen, bei den Ernährungspräferenzen, im Umgang mit Produkten jeglicher Art, im Kommunikations- und Kaufverhalten. Damals galt die einfache Formel:
Frauenmarketing + Männermarketing = Gender Marketing
Die weltweit erste öffentliche Verwendung und Definition des Begriffs Gender Marketing findet sich im Buch Der Kunde ist weiblich (2005) von Diana Jaffé. In Abgrenzung zu dem älteren LGBT-Marketing („Lesbian, Gay, Bi, Transsexual“) bezieht sich Gender Marketing in vielen Aspekten vorwiegend auf heterosexuelle Menschen.
Frauen und Männer als Zielgruppen werden bis heute sowohl hinsichtlich ihrer biologischen Voraussetzungen als auch über gesellschaftliche Rahmenbedingungen im Zusammenhang betrachtet. Gender Marketing berücksichtigt wissenschaftliche Erkenntnisse aus vielen unterschiedlichen Disziplinen (z. B. aus Hirnforschung, Soziobiologie, Anthropologie, Wirtschaftswissenschaften) ebenso wie kulturelle Faktoren im stetigen gesellschaftlichen Wandel.
Widerspricht das Gender Marketing dem Prinzip der Gleichberechtigung? Keineswegs – solange die Unterschiede zwischen Frauen und Männern als das begriffen werden, was sie sind: Verschiedenheit ohne die Bewertung nach richtig und falsch, nach besser oder schlechter.
Gender Marketing heute
Seit 2001 ist viel Zeit vergangen. Unsere Forschung und Projektarbeit brachte uns zu der Erkenntnis, dass der Betrachtungsrahmen von Gender Marketing wesentlich weiter gefasst werden muss.
Unsere heutige Gender Marketing Definition
Gender Marketing ist ein ganzes System. Es umfasst
- das Geschlecht der Kunden,
- des Produkts,
- des Herstellers bzw. seiner Marke,
- des Händlers / Handelskanals,
- der Kommunikation (Inhalt, Stil, verwendete Kommunikationskanäle),
- der Services,
- der Verkaufsberater und ihrer Verkaufstechnik
- sowie gegebenenfalls auch die Preisbildung.
Gender Marketing beginnt bei der (Markt-) Forschung und Entwicklung und endet frühestens bei den Aftersales-Services.
Wie es zu der enormen Ausweitung der Definition gekommen ist, zeigt der folgende Fall aus unserer Praxis:
Das System „Gender Marketing“ am konkreten Praxisbeispiel
Unser Um- und Weiterdenken begann mit einem Kunden, der uns vor eine völlig neue Aufgabe stellte. Er war Hersteller des ersten Gelenkimplantats, das auf die Spezifika einer Mehrzahl weiblicher Körper abgestimmt war. Diese Entwicklung war nötig gewesen, denn die anhand männlicher Körper entwickelten „Standardimplantate“ führten bei Patientinnen zu deutlich mehr Komplikationen als bei männlichen Patienten. Seit Jahrzehnten litten Frauen an wesentlich stärkeren Beschwerden aufgrund von Passungenauigkeiten der Implantate. Dadurch benötigten sie weit häufiger Nachoperationen zur Beseitigung von Gelenkproblemen und schmerzhaften Gewebereizungen als Männer. Das neue Implantat unseres Kunden reduzierte für eine Vielzahl von Patientinnen derartige Unannehmlichkeiten sowie die Risiken durch Folgeoperationen. Auch sparte es den Krankenkassen natürlich viel Geld, da Nachbehandlungen deutlich seltener anfielen. Man sollte also meinen, dass dieses wunderbare Produkt mit hohem Nutzwert sich verkaufen würde wie geschnitten Brot.
Tat es aber nicht, jedenfalls nicht überall, denn es gab Chirurgen, die das neue Implantat willkommen hießen und andere, die es massiv ablehnten. Unser Kunde war jedoch auf die Chirurgen angewiesen, da sie darüber bestimmten, welches Implantat die Patientinnen erhielten. Chirurgen sind somit die „Händler“ und gleichzeitig die „Kaufentscheider“ in solchen Medizinbereichen.
Um der Ablehnung mancher Chirurgen auf die Spur zu kommen, analysierten wir die Gesamtsituation und die Stellung aller Akteure im „Marktgeschehen“. Dabei fanden wir heraus, dass nicht nur Kunden – bzw. Patienten – ein Geschlecht haben, sondern auch Dinge, und dass sich relevante geschlechtsspezifische Aspekte in jedem Punkt der Gesamtkonstellation befinden!
Bei diesem Kunden hatten wir es mit folgender Gesamtlage zu tun: Ein männlich geprägtes Unternehmen in einer männlichen Branche stellte erstmals ein weibliches Produkt für eine fast ausschließlich weibliche Patientengruppe her. „Händler“ und „Kaufentscheider“ hierfür waren Chirurgen, von denen zu diesem Zeitpunkt 99 Prozent Männer waren. Die Chirurgen erhielten die Produktinformationen hauptsächlich über weibliche und männliche Vertriebsmitarbeiter des Herstellers sowie die üblichen fachspezifischen Drucksachen. Der Hersteller schöpfte seine rechtlichen Möglichkeiten aus, indem er mittels PR-Maßnahmen in Publikumszeitschriften für Frauen über sein Produkt informierte. Viele Leserinnen zeigten Interesse am neuen Implantat und sprachen ihren Chirurgen diesbezüglich an. Darauf war so mancher Arzt nicht vorbereitet. Ihm fehlte vertieftes Wissen über das damals neue Fachgebiet Gender Medicine (geschlechtsspezifische Aspekte in der Medizin), über die spezifische Sorgen und Bedürfnisse seiner weiblichen Patienten und Kenntnisse zur Gesprächsführung mit zumindest rudimentär informierten Frauen. Dem Hersteller war all dies auch nicht bewusst, sodass er seine Vertriebsmitarbeiter und die Ärzte nicht rechtzeitig unterstützt hatte.
Derartige Verwerfungen finden sich überall dort, wo nicht ausschließlich männlich geprägte Hersteller mit männlichen Marken männliche Produkte über männliche Handelskanäle an männliche Kunden verkaufen (z. B. Sportwagen von Porsche, Audiosysteme von Burmester, Uhren von IWC, Doppelwhopper von Burger King) oder entsprechendes in der weiblichen Variante (z. B. Chanel, Ikea, Sekt von Jules Mumm) stattfindet.
Alle Geschlechterkonstellationen sind möglich – aber nicht alle funktionieren!
Es gibt beinahe zahllose Geschlechterkonstellationen von der Entwicklung einer Produkt- oder Dienstleistungsidee bis zu den Käufern und Verwendern. Nicht alle jedoch funktionieren am Markt! Die meisten Produktflops lassen sich auf übersehene Fehler im Gesamtsystem zurückführen. Eine ganz besondere Rolle spielt das Gender Marketing überall dort, wo neue Zielgruppen gewonnen werden sollen – insbesondere, wenn es sich um Zielgruppen des anderen Geschlechts handelt. Daraus ergeben sich viele zu berücksichtigende Aufgaben. Das folgende Beispiel soll dies verdeutlichen.
Beispiel: Als die Kosmetikindustrie den Mann „entdeckte“
Die Kosmetikindustrie entwickelte Pflegeprodukte for men, weil sie festgestellt hatte, dass Männer keine Frauenprodukte kaufen und benutzen wollten. (Tatsächlich haben viele Männer aus diversen Gründen große Schwierigkeiten damit, vermeintliche oder echte Frauenprodukte zu verwenden.) Für das Unternehmens- und Branchenwachstum war es jedoch unabdinglich, zusätzlich zum längst gesättigten Markt mit Frauenprodukten nun die Männer als Verwender und Käufer zu gewinnen. Der Schlüssel lag darin, die Pflegeprodukte gezielt männlicher zu konzipieren. Das bedeutete also in der Praxis, dass Pflegeprodukte eine männlichere Rezeptur benötigten (z. B. Abstimmung auf „typisch männliche“ Hautanforderungen, männlichere Duftnoten), einen männlichen Namen, ein männliches Verpackungsdesign. Auch gab es Raum für neue Produktkategorien, beispielsweise Weichmacher für den Dreitagebart (über die Sinnhaftigkeit und die Gesundheitsaspekte solcher Produkte kann man geteilter Ansicht sein). Darüber hinaus aber mussten die Hersteller auch ganz andere Storys erzählen, weil Männer ganz andere Motivationen haben als Frauen, Pflegeprodukte zu verwenden.
Zusammengefasst sieht die Situation heute so aus: Meistens weibliche Kosmetikmarken (z. B. L’Oreal, Dove, Clarins) stellen nun männliche Produkte her, die über den noch immer typisch weibichen Handel in Form von Drogerien und Kaufhäusern an den Mann sowie die Frau, die für ihren Partner kauft, gebracht werden sollen. Die Kommunikation muss vornehmlich die männlichen Kunden adressieren, darf dabei aber die oftmals kaufentscheidenden Partnerinnen nicht verprellen. Die überwiegend weiblich ausgerichteten Handelskanäle müssen mit Produktpräsentationen und Aktionen am POS ausgestattet werden, die auch den Mann erreichen.
Weiterführende Informationen
Weitere Informationen zum System Gender Marketing finden Sie im Buch Was Frauen und Männer kaufen von Diana Jaffé oder sprechen Sie uns direkt an!